Wie tätigkeitstheoretische Annahmen methodisches Handeln (in der Sozialen Arbeit) strukturieren

veranschaulicht an der Methode „Biografie-Bauen“

Beitrag zum Workshop „Tätigkeitstheorie und kulturhistorische Schule“ vom 22. bis 24. April 2016 von Renate Maurer-Hein und Dorothee Roer

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1. Worum es uns geht

„Biografie-Arbeit“, ein von uns entwickelter Ansatz in der Sozialen Arbeit stützt sich auf die Grundannahmen des Leontjev’schen Menschenbilds und Gesellschaftsverständnisses (z.B. Roer / Maurer-Hein, 2013; Roer, 2012: 49-72) Wir gehen von der These aus, daß diese theoretische Ausrichtung das gesamte professionelle Handeln prägt. Exemplarisch, begrenzt auf einen Aspekt, nämlich das Konstrukt Tätigkeit, und ein methodisches Beispiel, nämlich die Methode „Biografie-Bauen“, wollen wir das veranschaulichen.

2. Das Vorgehen: Der Zeitplan 

Tag/Zeit-bedarf

Thema

Moderation/

Teilnehmende

Material/

Anmerkungen

Samstag-abend

ca 30‘

Vorbereitung:

Raumgestaltung: Tische und Stuhlkreis stellen,

Baumaterialien auslegen,

Flipchart „5 Bearbeitungsschritte“ aufhängen

Material für die Auswahl der Teilnehmenden im inneren und äußeren Kreis („Fishbowl“)

Dorothee/Renate

Baumaterialien, Stifte, Tische, Stühle, Flipchart

ca 30‘

Bauen der Bildungsbiografien:

Instruktion

Bauphase

Stiller Rundgang (s. Pkt. 3)

Moderation: Dorothee

Alle, die Lust haben

Alle

ca 30‘

Auswahl des Protagonisten/der Protagonistin für die Bearbeitung am Sonntag

Entscheidung über Besetzung des „Fishbowls“ über Losverfahren

Alle

Sonntag-vormittag

ca 10′

Vorstellung der 5 Bearbeitungsschritte (s. Pkt. 4)

und der Regeln (s. Pkt. 5)

Erläuterung der Rolle der Moderatorin

Sitzordnung: „Fishbowl“

Moderation: Renate

Regeln aufhängen

ca 30′

Exemplarische Bearbeitung eines Biografiebaus anhand der

5 Bearbeitungsschritte

anschließend wird der innere Kreis aufgelöst

s.o.

30′

Input: „Von tätigkeitstheoretischen Annahmen und methodischem Handeln“ (s. Pkt. 6)

Dorothee/Renate

Text wird verteilt

20′

Zusammenfassende Diskussion und Feedback

Alle

Abschließende Bitte: Jede/jeder baut ihren/seinen Biografiebau ab

Alle, die gebaut haben

Baumaterialien zurück in den Transportkoffer

3. Die Biografie-Bauten im Foto 

Fotos: Felix Winter

4. Exemplarische Bearbeitung eines Biografie Baus

1. Bearbeitungsschritt

Der Bauherr/die Bauherrin stellt sein/ihr Gebautes vor und kommentiert es

2. Bearbeitungsschritt

Nachfragen der Gruppe

Wichtig: Die Fragen beziehen sich ausschließlich auf das Gezeigte (Keine Interpretationen und Kommentierungen)!

3. Bearbeitungsschritt

Die Selbstinterpretation des Bauherrn/der Bauherrin

4. Bearbeitungsschritt

Das Gruppengespräch: Soziale Verallgemeinerung und historische Vertiefung der individuellen Erfahrungen (z. B. durch Intergenerationenvergleich)

5. Bearbeitungsschritt

Zusammenfassende Rekonstruktion des „Ich“ (und der „anderen“) durch den Bauherrn/der Bauherrin

5. Die Gesprächsregeln

Die Gruppenmitglieder und ihre Haltung:
  • sie achten auf das Gezeigte
  • sie sind neugierig
  • sie sind respektvoll
  • sie machen sich fremd
ihre Arbeitsweise:
  • was sie tun: sie fragen, auch ergänzend und vertiefend
  • was sie nicht tun: sie interpretieren nicht, sie projizieren nicht, sie korrigieren nicht, sie belehren nicht und geben keine Ratschläge
… dabei gilt:
  • der Bauherr/die Bauherrin hat immer recht! (s.o.)
  • die Biografie-Bauten sind immer auch als gesellschaftlicher Text zu lesen; diese Dimension wird erarbeitet, indem die Gruppenmitglieder das bearbeitete Produkt in Beziehung zu ihren eigenen Geschichten setzen.

6. Input: tätigkeitstheoretische Annahmen und methodisches Handeln

Bisher haben wir Euch eine Methode aus der Biografie-Arbeit vorgestellt. Wir hoffen, daß diese kleine praktische Demonstration Euch schon spontan auf unterschiedliche Weise zu tätigkeitstheoretisch orientierten Deutungen angeregt hat. Im Folgenden wollen wir in Hinblick auf den Prozess und die Bestandteile des „Biografie-Bauens noch einmal im Detail verdeutlichen, wie wir uns das Hineinwirken der Theorie in die Praxis vorstellen.

6.1. Die theoretische Ausgangslage

Das tätigkeitsorientierte Menschenbild Leontjevs betont, unter anderem, folgende Aspekte:

  • Tätigkeit als äußere und innere Tätigkeit
  • Tätigkeit als Aneignung und Vergegenständlichung oder: „Tätigkeit als …Prozess, in dem die wechselseitigen Übergänge zwischen den Polen ‚Subjekt – Objekt’ verwirklicht werden (z.B. Leo 1979:83)
  • Tätigkeiten in ihrer Abhängigkeit vom jeweiligen Platz des agierenden Subjekts innerhalb der Gesellschaft (z.B. Leo 1979:84)
  • Persönlichkeit als Tätigkeitsmoment und Tätigkeitsprodukt (z.B. Leo 1979: 154)
  • Persönlichkeit als „psychologische Neubildung“, „die in den Lebensbedingungen des Individuums infolge der Umgestaltung seiner Tätigkeit geformt wird“ (Leo 1979: 165), d.h. nach Leontjev erschafft sich die Persönlichkeit selbst

Daraus abgeleitet, verstehen wir:

  • das Subjekt, den „Konstrukteur“ der eigenen Persönlichkeit, als Experten seiner Person, Biografie und Geschichte

6.2. Tätigkeitsdimensionen im „Biografie-Bauen“

Auf der Basis dieser theoretischen Orientierung fragen wir danach, wo und/oder wie im Biografie-Bauen sich Momente dieses Menschenbilds oder Persönlichkeitsverständnisses zeigen und wie sie in der Methode wirksam werden.

6.2.1. Die Instruktion:
  • Die Aufforderung zum Bauen der eigenen Biografie (oder bestimmter Lebens- bzw. Konfliktsituationen) bedeutet für den Akteur zunächst ganz konkret, eine äußere Tätigkeit zu vollziehen.
  • Die in dem Auftrag implizierte Annahme, das eigene Leben (oder Ausschnitte / Aspekte daraus) könnte(n) gebaut werden und gebaut sein, regt an, die eigene Biografie als hergestellt (von wem??) zu denken.
6.2.2 Die Arbeitsmaterialien:
  • Die Gegenständlichkeit, Handfestigkeit und kontextuelle Vertrautheit (Kinderspiele) der Baumaterialien (im Unterschied zu naturhaften Materialien wie Muscheln, Steine, Trockenblumen etc., die eine eher symbolisch geladene Verwendung nahelegen) unterstützt in den Akteur_innen das Erleben konkreten Tätigseins.
  • Gleichzeitig sind die Materialien durch die Aufgabe des Biografie-Bauens aus dem vertrauten Bedeutungshorizont herausgenommen, verfremdet, und regen so zur persönlichen Aneignung und Vergegenständlichung an.
  • Die nonverbale Herstellung des Baus unterstützt diesen Prozess der persönlichen Aneignung und Vergegenständlichung. Wenn Sprache nicht gefragt ist, können alltagspsychologische Stereotypisierungen, vernunftmäßige Deutungen und Rationalisierungen die Produktion und das Produkt nicht so leicht überformen und „vergesellschaften“.
6.2.3. Die Bedingungen des Bauens:
  • Es gibt genug Material von allem und für alle. Das ist eine notwendige Voraussetzung für die Sicherheit der Akteur_innen, ein authentisches Produkt herstellen zu können.
  • Die Instruktionen „Jeder baut ihrs / seins“ und „Es gibt kein ‚richtig’ und ‚falsch’, kein ‚gelungen’ und ‚verfehlt’ soll die Bauherrinnen und Bauherren als Expert-innen ihres Projekts ansprechen.
  • Das Achten auf absolute Ruhe und Nichteinmischung anderer Anwesender während des Bauvorgangs soll diese Tendenz zusätzlich unterstützen.
6.2.4. Das Gruppengespräch und seine Regeln:
  • Im anschließenden Gruppengespräch (s. Pkt. 4) geht es vor allem um die Herausarbeitung des persönlichen Sinns und der gesellschaftlichen Bedeutung des Biografie-Baus.

Die Kommunikation (zwischen der Bauherrin / dem Bauherren und der Gruppe) wird dabei so strukturiert, daß die Bauherrin / der Bauherr jederzeit und uneingeschränkt als Bestimmer_in über das von ihr / ihm Gebaute verfügt. Mit diesem Vorgehen folgen der Leontjevschen Annahme der Selbsterschaffung des Subjekts in seinen Tätigkeiten und schaffen Raum dafür, daß sich die Akteur_innen als Expert_innen in eigener Sache erleben können.

  • Die Regeln der Bearbeitung (s. Pkt.5) im einzelnen entsprechen diesem Prinzip:

Die Bauherrin / der Bauherr hat das erste und das letzte Wort; er / sie hat immer recht.

Die Gruppe respektiert ohne Wenn und Aber die Positionen des Bauherren / der Bauherrin, des von ihm / ihr vorgestellten Produkts, wie seine / ihre Interpretationen.

Dies gelingt, wenn die Gruppenmitglieder:

  • eine konsequent fragende Haltung einnehmen
  • wenn sie auf das Gezeigte achten
  • sich neugierig und respektvoll verhalten
  • wenn sie nicht interpretieren, sich „einfühlen“, beraten, projizieren, sondern „sich fremd machen“ (vgl Schütze, 1994, „ethnographisches Fremdverstehen“).
  • Nachdem ein Biografie-Bau in dieser Weise bearbeitet wurde, erhalten die anderen Gruppenmitglieder die Möglichkeit, diese eine biografische Erzählung in Beziehung zur eigenen Geschichte zu setzen, Entsprechungen, Unterschiede oder Gegensätze herauszuarbeiten. So werden persönliche Erfahrungen sozial verallgemeinert und historisch vertieft. Indem der Bezug zu gesellschaftlich-politisch-sozialen und ökonomischen Strukturen und Entwicklungen hergestellt wird, läßt sich die von Leontjev immer wieder betonte Gesellschaftlichkeit des Psychischen sichtbar machen. Das schließt auch seine Annahme ein, daß die Subjekte in ihren Tätigkeiten und durch sie die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer sie agieren, verändern (können), dies auch gemeinsam, in solidarischer Aktion. In diesem Arbeitsschritt gilt der oben beschriebene Expertenstatus („in eigener Sache“) für alle Mit-Spieler_innen.
  • In der abschließenden Reflexion des Gruppengesprächs durch die Bauherrin / den Bauherrn kann sie / er sich nochmals mit Blick auf das Ganze das Biografie-Baus und des Biografie-Bauens, als Produzent_in ihrer / seiner selbst präsentieren.

6.3. Fazit: warum wir der Meinung sind, dass tätigkeitstheoretisch begründete Methoden in der Sozialen Arbeit endogene, deshalb nachhaltige, Veränderungen produzieren können.

Wir hoffen, daß es uns gelungen ist zu zeigen, wie eine tätigkeitstheoretisch Fundierung professioneller Methoden Sozialer Arbeit (hier am Beispiel des „Biografie-Bauens“) ganz konkret Wirkung entfaltet.

  • Indem der Ansatz ermöglicht, daß Menschen sich als biografische Akteur-innen, als Expert-innen ihrer Persönlichkeit und Geschichte, begreifen, schafft er die Grundlage für nachhaltiges professionelles Handeln. Denn nur, wenn Situationsanalysen und Lösungsvorschläge aus der Lebensmitte der Betroffenen, aus ihren Tätigkeits- und Interpretationszusammenhängen entwickelt werden (d.h. wenn sie wirklich endogen sind) , werden sie passende, damit langfristig tragfähige Veränderungen bewirken.
  • Leontjevs Menschenbild impliziert, das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft dialektisch zu denken. Damit ist die für die bürgerlichen Subjekt- und Sozialwissenschaften charakteristische Annahme eines Antagonismus von Subjekt / Individuum und Gesellschaft überwunden, die sich auch in den Sozialarbeits-wissenschaften chronisch als Hemmschuh für die Entwicklung tragfähiger Theorien und Praxen auswirkt.

7. Literatur

Leontjev, Alexej (1979) Tätigkeit Bewußtsein Persönlichkeit, Berlin: Volk und Wissen

Roer, Dorothee / Maurer-Hein, Renate (2013) Kritische Sozialarbeitswissenschaften und die Tätigkeitstheorie Leontjevs, Vortrag, gehalten anläßlich des Workshops Tätigkeitstheorie 2013 in Ohrbeck

Roer, Dorothee (2012) Biografie-Arbeit: ein tätigkeitstheoretisch fundierter Ansatz Rekonstruktiver Sozialer Arbeit, in: Tätigkeitstheorie, E-Journal für tätigkeitstheoretische Forschung in Deutschland, 9/12, S.49-72

Schütze, Fritz (1994) Ethnographie und sozialwissenschaftliche Methoden in der Feldforschung. Eine mögliche methodische Orientierung in der Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit, in: GroddeckNorbert / Schumann, Michael (hg.) Modernisierung Sozialer Arbeit durch Methodenentwicklung und –reflexion, Freiburg: Lambertus, S.189-295

Renate Maurer-Hein
r.maurer-hein[at]web.de

Dorothee Roer
d.roer[at]gmx.de

Institut Biografie und Gesellschaft
Wielandstr. 47
60318 Frankfurt am Main
Tel.: 069.591545
www.biografieundgesellschaft.de

Fotos: Felix Winter
felix_winter.nfl[at]bitel.net