Biografie-Arbeit

Biografie-Arbeit – unser Selbstverständnis:

1. Einführung

In Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit wird ein neues Denken und Handeln erkennbar: als Alternative zur herrschenden psychologistischen und ökonomistischen Orientierung: Die (Wieder) Entdeckung des Menschen als aktiv, tätig, als Schöpfer seiner Identität, seiner Welt und seiner Geschichte. Damit werden „Biografie“ und „Narration“ (biografische Erzählung) zu Schlüsselbegriffen für Entwicklung und Veränderung.

2. Biografie-Arbeit: das Menschenbild

Biografie-Arbeit basiert auf der Tätigkeitstheorie von A.N. Leontjev (1903 – 1979). Mit Leontjev begreifen wir Subjekte als Akteur*innen, die in einem lebenslangen Prozess zwischen sich und ihrer Umwelt Verbindungen herstellen, so ihr Leben organisieren und ihre Biografie hervorbringen. Sie tun das, indem sie tätig sind: Tätigkeit ist ihrer Grundform nach eine äußere, die auf einen Gegenstand zielt. Indem sie durch den Gegenstand bestimmt wird, sich ihn zugleich unterwirft und ihn verändert, wird Tätigkeit zu einer kontinuierlichen Form der Vermittlung zwischen dem Subjekt und der gegenständlichen (damit auch der sozialen) Welt. In diesem Prozess formt sich Persönlichkeit als Resultat der Umgestaltung der Tätigkeiten des Subjekts. Diese Konstruktion und Rekonstruktion der eigenen Persönlichkeit und Biografie nennen wir Biografie-Arbeit („doing biography“).

Biografie-Arbeiter*innen, das ergibt sich aus dem Gesagten, werden im biografischen Ansatz ohne Wenn und Aber als die Expert*innen ihres Lebens angesehen, ein Verständnis, wie es zum Beispiel die Chicago-Schule der Soziologie in den 1920er und 30er Jahren vertrat Auch wenn Tätigkeitsstrukturen und Lebensentwürfe biografischer Akteur*innen unangepaßt, unangemessen, zerstört erscheinen mögen, so sind sie doch immer das Ergebnis aktiver Aneignung und Vergegenständlichung ihrer konkreten, d.h. realen gesellschaftlichen Existenz.

3. Narration: die biografische Erzählung

In solchen Prozessen wird die eigene Geschichte, werden Erfahrungen und Erlebnisse von den Protagonist*innen sprachlich hergestellt. Sie existieren so als persönliche Erzählungen, Narrationen. Als sprachliche Zeugnisse haben sie aber auch eine objektive Qualität, sind Ausdruck und Bestandteil kultureller gesellschaftlicher Diskurse.

In der Auseinandersetzung mit (auto-) biografischen Erzählungen kann das eigene Leben in Besitz genommen und verändert werden: Geschichten und Geschichte können eingeordnet, neue Verknüpfungen hergestellt, die eigene Biografie differenziert und mit ihren Widersprüchen rekonstruiert, Kontinuitäten und Brüche als Stärken entdeckt werden

Indem Menschen ihre eigenen Erfahrungen mit denen Anderer in Beziehung setzen, erkennen sie sowohl deren gesellschaftliche Gewordenheit wie die Fähigkeit, als handelnde Subjekte in soziale Prozesse einzugreifen.

4. Die Bedeutung des biografischen Ansatzes für Soziale Arbeit

Dieses Tätigkeits- und Persönlichkeitsverständnis nötigt dazu, die Materialität der Lebenswelten in ihrer Bedeutung für Identität und Geschichte biografischer Akteur*innen sehr ernst zu nehmen, besonders die Tatsache, daß Lebenschancen und Ressourcen in unserer kapitalistischen Klassengesellschaft prinzipiell ungleich verteilt sind. Für Soziale Arbeit, die ja hauptsächlich mit Adressat_innen aus der Unterschicht oder von den Rändern der Gesellschaft zu tun hat, ist diese Blickrichtung unverzichtbar. Nur aus einer solchen Perspektive läßt sich wirklich erklären, wie Menschen sich die ihnen zugewiesenen unterprivilegierten Verhältnisse in ihrer lokalen, Schicht- und Klassenspezifik aneignen, wie sie dabei ihre eigenen‚ ’endogenen’ Bewältigungsstrategien und Identitätsentwürfe entwickeln, wie sie immer mehr zu Expert*innen ihres Lebens am Rande der Gesellschaft werden, und das auch bleiben in ihrem ‚Scheitern’ an individuell unlösbaren objektiven Problemlagen.

5. Biografie-Arbeit als Praxis

Wegen der theoretischen Paßgenauigkeit, aber auch wegen der resultierenden Praxis eignet sich Biografie Arbeit in besonderer Weise als Grundlegung einer rekonstruktiven Sozialer Arbeit. Die Deutung Sozialer Arbeit als Biografie-Arbeit nötigt nämlich zu nachhaltigem und politisch verantwortetem professionellem Handeln. Ihr Ziel ist die Unterstützung der Protagonist*innen in der ’endogenen’ Rekonstruktion ihrer Lebensentwürfe und Lebensbedingungen.

Biografie-Arbeit impliziert eine Haltung „ethnographischen Fremdverstehens“ (z.B. F. Schütze). In postmodernen, hoch individualisierten Gesellschaften wird Interaktion vorrangig durch die Erfahrung von Fremdheit bestimmt. Dieses Muster der Beziehungsgestaltung wird im vorliegenden Ansatz als Haltung des Respekts vor der Andersheit des Gegenübers praktisch umgesetzt. Respekt heißt Achtung vor dem Gewordensein und vor der Autonomie aller Akteur*innen ohne Wenn und Aber. Das setzt eine große Offenheit und Sensibilität der Professionellen für die Perspektiven der Nutzer*innen, aber auch die Fähigkeit voraus, sich gegenüber der eigenen Biografie fremd zu machen, d.h. sich des eigenen Gewordenseins, der Gesellschaftlichkeit und Geschichtlichkeit der eigenen Biografie bewußt zu werden. Dieser selbstkritische und selbstreflexive Anspruch der biografischen Haltung scheint auf den ersten Blick selbstverständlich daherzukommen, wer ihn praktiziert, erkennt schnell, welche Herausforderung für die Professionellen er darstellt.

Respektvolle Offenheit im sozialen Arbeitsprozess führt zu einer Orientierung dialogischer Verständigung, die Widersprüche zwischen als gleichrangig (an)erkannten, spezifischen Erfahrungs- und Wissensbestände der Beteiligten überwindet, indem ein Gemeinsames Drittes gesucht, gefunden und zur Grundlage des nächsten Handlungsschritts gemacht wird. Das setzt voraus, Räume zu schaffen für solche Kommunikation auf Augenhöhe.

Die biografische Haltung umzusetzen ist in Zeiten gesellschaftlichen Spaltung, in der die Perspektiven der Nutzer*innen und Anbieter*innen oft weit auseinander gehen, ebenso schwierig wie unpopulär, nichts desto weniger notwendig. Biografie-Arbeit leistet sie sich, indem sie die Rahmenbedingungen Sozialer Arbeit als gesellschaftlich gegeben, damit veränderbar definiert.

Der Ansatz, wie wir ihn vertreten, ordnet sich in das breitere Spektrum theoretischer und methodischer Konzepte Rekonstruktiver Sozialer Arbeit. Sie etablieren sich in den Arbeitsfeldern Beratung, Familienhilfe, Adoptiv- und Pflegekinderarbeit, (teil-) stationäre Jugendhilfe, Seniorenarbeit, in der Erwachsenenbildung, in (sozial) psychiatrischen Einrichtungen, in der Stadtteil- / Gemeinwesenarbeit. Schließlich wird der biografische Ansatz in Supervision, Intervision, Coaching sowie als praxisorientierter Forschungsansatz in der Projektentwicklung und –begleitung genutzt.

6. Biografieorientierte Methoden

An erster Stelle sind narrative Methoden zu nennen. Dazu gehören verschiedene Varianten narrativ-biografischer Diagnostik, die jedoch alle dem dialogischen Fallverstehen verpflichtet sind. Dann biografisch-narrative Beratungs- und Therapiekonzepte, die die in der Biografieforschung entdeckte‚ heilsame Wirkung des Erzählens’ als Therapeutikum nutzen, schließlich Settings wie Erzählwerkstätten und Erzählcafés, in denen Narrative der gesellschaftlichen Selbstversicherung und Veränderung dienen sollen.

Zweitens sind einige Methoden zu nennen, die in der inhaltlichen Beschäftigung mit dem Thema ‚Biografie’ entstanden. Sie nutzen nonverbal-kreative Techniken der Konstruktion und Re-Konstruktion von Identität und Geschichte der beteiligten Subjekte. Beispielhaft genannt seien ’Bastel-Biografien’ oder ‘Biografie Bauen‘ oder das Skulpturen-Theater. Auch hier gilt: sie lassen sich für Biografie-Arbeit nutzen, weil und sofern sie in ihrer theoretischen Fundierung mit deren Menschenbild und Gesellschaftsverständnis kompatibel sind.